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Titel
I de gottvergässne stedt. Mani Matter und die Verteidigung des Christentums


Autor(en)
Rothen, Paul Bernhard
Erschienen
Bern 2013: Zytglogge Verlag
Anzahl Seiten
143 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Plüss David

Die Lektüre der Sudelhefte des Juristen Mani Matter war es, die den Gymnasiasten Bernhard Rothen nicht Jurisprudenz, sondern Theologie studieren liess. Matters Interesse für sokratisches Fragen und theologisches Nachdenken wirkte auf Rothen, den Autor des anzuzeigenden Bandes, ansteckend. Die Theologie, so schloss der Gymnasiast aus seiner Matter-Lektüre, bilde «womöglich die Grundlagen für das, was uns einen neuen Willen schenken kann, nicht nur das Nützliche, sondern das Recht und die Wahrheit zu suchen» (S. 9). Ein Vertrauen in die Leistungskraft theologischen Denkens, das bei Matter weit ausgeprägter zu finden sei als in der Kirche.

Der Band ist aus Vorträgen über Matter und seine Lieder aus den letzten Jahren entstanden. Sie wurden für die Drucklegung gründlich überarbeitet, in eine konsistente Abfolge gebracht und ergänzt. Dabei ist es der Zusammenhang von Kultur und Christentum, «von künstlerischem Schaffen und zunächst politischem und dann zunehmend theologischem Denken» (S. 10), das Rothen bei Matter vor allem interessiert.

Am Beispiel des Lieds i han es zündhölzli aazündt zeigt Rothen, dass und wie bei Matter Gott ins Spiel kommt: Beiläufig und in einer Alltagswendung: «gott sei dank dass i s vom teppich wider furt ha gno.» Die Dinge nehmen ihren fatalen, aber angesichts der Kubakrise, auf die Matter anspielt, keineswegs unwahrscheinlichen Lauf, auch wenn die Drastik des Geschehens durch den Konjunktiv abgemildert wird. Das Eis ist offenbar dünn. Das «gott sei dank» am Schluss ist für Rothen durchaus doppeldeutig: Ein Ausdruck der Erleichterung und eine tatsächliche Anrufung Gottes angesichts dramatischer Ereignisse, wobei Rothen Matter damit keinen Gottesglauben unterstellt, aber doch ein sensibles Wahrnehmen und Gestalten der Spannung zwischen Alltagslogik und Absurdität, zwischen Harmlosigkeit und drohenden Abgründen, zwischen Zweckrationalität und Sinnfragen.

In seinem zweiten Beitrag greift Rothen Fragen des 26-jährigen Matter an einen Theologen auf: Fragen, die die Christologie und die Ethik betreffen, Fragen in der Spannung von Dogma und Moral, von Paulus und Jesus. Rothen zeigt, inwiefern der junge Matter mit wenigen Fragen, aber grossem Spürsinn die Grundspannung christlicher Theologie auf den Punkt bringt.

Sodann analysiert Rothen einen historischen Vergleich Matters, wonach im Mittelalter die Menschen in unseren Breiten zwar verschieden von Herkunft und Stand, aber doch Christen gewesen seien. Dagegen seien wir heute «nicht mehr Christen» und es gäbe «keine Kirche mehr» (S. 45). Und weiter: «Da durch die Glaubensfreiheit die Weltanschauung Privatsache geworden ist, hat die öffentliche Auseinandersetzung ihre Basis verloren. Der Gesellschaft fehlt ein gemeinsames Bezugssystem» (S. 45). Rothen gelingt es, im Anschluss an diese Notiz zu zeigen, dass sich die Bedeutung von Christentum und Kirche für den gänzlich säkular erzogenen und gesinnten Matter gerade nicht auf eine individuelle Religiosität beschränkt, sondern eminent gesellschaftlicher und also öffentlicher Natur ist: Jene könnten und müssten die Voraussetzung bilden, von der «der freiheitliche, säkularisierte Staat»1 lebe (S. 46). Matter habe demnach kein religiöses Interesse am Christentum, sondern ein politisches und ein ethisches. «Nicht nur als Jurist, sondern mehr noch als Künstler möchte er wissen, ob das Gemeinwesen nicht auf etwas Besserem als nur den gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen beruht» (S. 49). Und Rothen stimmt emphatisch ein: «Eine konfessionell neutrale Kultur ist eine Chimäre. Und ein Kult, der sich unantastbar macht, indem er sich ins Private zurückzieht, wird belanglos» (S. 51). Dies konkretisiert Rothen mit einer theologischen Interpretation des Lieds chue am waldrand, die er nicht nur auf das biblische Bilderverbot, sondern auch – deutlich über Matter hinausgehend – auf die Sonntagsheiligung bezieht.

Matter hat sich, wie Rothen herausstreicht, weder mit der Bibel noch mit Spiritualität, sondern vor allem mit der Theologie des 20. Jahrhunderts befasst. Insbesondere mit Karl Barth, aber auch mit Paul Tillich, Rudolf Bultmann und Dorothee Sölle. Dem nicht leicht zugänglichen Ansatz Barths stimmte Matter im Grundsatz wie in zentralen Punkten – etwa der Sündenlehre – zu. Gerade in Bezug auf die Sünde habe Matter die Zeichen der Zeit präziser erkannt und die Grundmotive der Theologie besser begriffen als Theologie und Kirche der Gegenwart.

Im Kapitel Von der Politik zur Religion arbeitet Rothen Matters Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Weltanschauungen – insbesondere der 68 er-Bewegung und dem Marxismus – heraus, wie sie sich in einigen Liedern, aber auch in seinen Notizen abzeichnet. Matter wäge ab, schaue genau hin. Da und dort schleiche sich leichte Resignation ein. «Zu einem missionarischen Aufklärer» sei er jedenfalls nie geworden (S. 87). Im Cambridge Notizheft findet Rothen eine «überraschende Wendung»: «Ich glaube», schreibt Matter, «man müsste – nicht etwas Besseres als Christentum, aber eine neue Form der Kirche finden». Und da Matter diesen Gedanken nicht weiter ausführt, nimmt Rothen die Steilvorlage auf und spielt den Ball weiter, indem er – nun mit Bonhoeffers Notizen aus dem Gefängnis – über die Erneuerung der Kirche sinniert.

Ausgehend von einem Eintrag in den Sudelheften, in dem Matter den Mangel der Kirche und des Christentums an schöpferischer Kraft konstatiert (S. 74), setzt Rothen zu einer veritablen Kirchen- und Theologenschelte an, indem er Drohworte und Weherufe aus Jeremia, Hosea und Matthäus aufgreift und ins Feld führt – und damit erklärtermassen über Matters Anfragen hinausgeht.

Insgesamt rekonstruiert Rothen präzise, erhellend und engagiert Matters Auseinandersetzung mit den Grundfragen unserer Gesellschaft, wie sie sich in seinen aphoristischen Reflexionen und Chansons findet. Da und dort stilisiert er ihn allerdings über Gebühren zum Propheten des Christentums. Etwa dann, wenn er schreibt: «Fragen, wie Mani Matter sie gestellt hat, stellt in der Kirche niemand. Sie sind zu einfach. Sie tasten nach der Wahrheit statt nach dem Erfolg» (S. 124). Gegen solch apodiktische Sätze hätte Matter wohl Einspruch erhoben. Gleichwohl stellt Rothens Matter- Lektüre einen wichtigen Beitrag zur Matter-Forschung dar. Denn Matters Interesse für theologische Fragen wurde zwar verschiedentlich festgestellt, aber meines Wissens noch an keiner Stelle einer fokussierten Darstellung gewürdigt.

1 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt a.M. 1976, 60.

Zitierweise:
David Plüss: Rezension zu: Rothen, Paul Bernhard: i de gottvergässne stedt – Mani Matter und die Verteidigung des Christentums. Bern: Zytglogge Verlag 2013. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 1, 2016, S. 125-128.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 1, 2016, S. 125-128.

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